Oper

Die Kinder sollten sich schön anziehen. Die Jungen ein Hemd, die Mädchen einen Rock oder ein Kleid. Gerade konnte ich es mir verkneifen auf die Nachricht im Gruppen-Chat der 4 a zu antworten, Oles Kleid sei gerade noch in der Reinigung. Sei’s drum. Mit einiger Überredungskunst zwängten wir den Jungen in ein blaukariertes Hemd, um sechs hatte sich die Gruppe am Bahnhof einzufinden. Es ging in die Oper. Ins Ballett genauer gesagt, Dornröschen. Drei Stunden Beine biegen und klassische Musik. Man musste froh sein, wenn keiner einschlafen würde. 100 Jahre, bis ein Prinz kommt….

Am Ende war es dann aber doch eine tolle Veranstaltung. Eine feine Dame hatte die Kinder von rechts hinten angemault: Rausgehen oder Fresse halten. Daraufhin hatte ihr die Lehrerin die Meinung gegeigt. In der Pause wurden im Foyer mitgebrachte Käsebrote verzehrt, wie bei einer anstrengenden Bergbesteigung hatte man die Hälfte der Vorstellung immerhin schon gut hinter sich gebracht.

In der zweiten Runde verlor der eigentliche Krachmacher und Raschler in der Reihe vor der 4a einen Zahn. Eine irre Wendung. Ein Mädchen wurde ermahnt sie solle still sein, dabei hatte sie nur leise darum gebeten, man möge sie wecken, falls sie einschliefe. Auf der Heimfahrt zischten die Lichter in den dunklen Straßen vorbei und machten die Kinder ganz schwummerig. Am nächsten Morgen überspannte ein Regenbogen die Stadt. Wie im Märchen.

Was ich dir wünsche

Mach dein verdammtes Herz auf, auch wenn es schmerzt.

Lass es hinein taumeln, das waidwunde Leben.

Zieh Furchen in die Welt und geh weiter mit schwarzen Rändern unter den Nägeln.

Kämpf dich durch die Taubheit an die Oberfläche. Atme.

Lass deine Worte wie Kristall sein. Scharfkantig und funkelnd.

Lass hinter dir, was Zerstörung bringt. Umarme deine Angst.

Nimm ein Kind auf den Arm und sag ihm, alles wird gut. Schau ihm dabei in die Augen.

Sag es noch einmal.

Ole und das Eichhörnchen

Oles kleine Hand ist warm und trocken. Sicher liegt sie in der großen von Mama, als die beiden mit immer kleineren Schritten auf das hohe Gittertor zugehen. Mama seufzt. Als Ole zu ihr hochguckt sieht er einen kleinen Kummer in ihren Augen. Aber mit dem Mund lächelt Mama. Der Kummer in Mamas Augen ist der selbe Kummer, den auch er hat. Er zieht und zuppelt und rumpelt im Bauch und in den Beinen, der Kummer. Denn Ole will nicht in den Kindergarten.

Dennoch stapft er tapfer weiter, denn Mama hält ihn fest, ganz fest. Und dann muss es doch irgendwie gut werden. Wenn Mama da ist, hat Ole keine Angst vor Pit, der ist viel stärker ist und zwei große Brüder hat. Wenn Mama da ist, dann lacht er und wirft sich mit Karacho in das schöne Holzauto, das vor dem Spielzimmer steht. Dann dreht Ole am Lenker und knallt die Schalthebel rein, kräht „Tuuuutuut“ und gluckert „Brummm Burummmbrummmmm“.

Doch als Mama ihren blauen Beutel über die Schultern wirft und sich zu ihm herunterbeugt weiß Ole schon ganz genau, was gleich kommt. Mama sagt, sie kommt bald wieder und gibt ihm einen kleinen zarten Nasenkuss. Ganz nah ist er ihren Augen dabei und er sieht genau, dass Mamas grüne Augen nass glänzen wie zwei Pfützen. Und dann ist sie draußen vor der Glasscheibe wirft einen letzten Handkuss in die Luft und Ole ist allein.

Allein mit den anderen Kindern und den Tanten, die eine dick und gemütlich, die andere lustig und flink. Und allein mit Pit. Spielen soll er und nachher Mittag essen. Hände waschen nicht vergessen. Ole weiß nicht, wie er den Vormittag aushalten soll. Mit einem ganz großen Klumpen im Bauch stellt er sich auf das Bänkchen am Fenster und schaut hinaus.

Schaut hinüber zur großen Kastanie, die ihre Äste über den Zaun streckt. Sieht die stacheligen Früchte und weiß, dass in ihnen glänzende Kugeln mit wunderschönen Mustern verborgen sind. Seine Hand tastet in die Hosentasche. Da ist sie, seine Kastanie. Mama hat sie hineingesteckt und gesagt, er soll sie ansehen, wenn er traurig ist. Und so steht Ole da mit der Kastanie in der kleinen Hand und ist traurig.

Auf einmal wackeln die Äste der Kastanie draußen. Ein Eichhörnchen klettert flink bis ganz zum Ende des Astes und schwingt sich über den Zaun in den Kindergarten. Mit winzigen Trippelschritten wetzt es zum Sandkasten und buddelt ein Loch und tut etwas Kleines hinein. „Da“ ruft Ole laut und zeigt aufgeregt mit dem Finger nach draußen. Doch die anderen sind viel zu beschäftigt um auf ihn zu achten. Doch das Eichhörnchen hebt den Kopf mit den Puschelohren und schaut Ole an. Genau ihn. Und dann zwinkert es ihm mit den schwarzen Knopfaugen zu. Ole sieht es ganz genau. Vor Aufregung drückt er seine Kastanie fest. Nachher, wenn Mama ihn abholen kommt, wird er mit ihr nachsehen, was das Eichhörnchen wohl dort für ihn versteckt hat.

Es garantiert dir auch ja auch niemand, dass es kein Arschloch wird

An diesem Morgen im späten Oktober bin ich beschwingt mit der Straßenbahn in die Innenstadt gefahren. Teure Lage, Marmor an der Fassade. Vor dem Haus ein Bettler. Ich gebe ihm einige Münzen. Lächle ihn an. Als ob man sich freikaufen könnte, denke ich noch. In der Rückschau ist an diesem Vormittag alles mit Bedeutung aufgeladen. Ich freue mich. Gleich werde ich mein Kind sehen. Hochauflösendes Babykino. Man wird mir sagen, dass alles bestens aussieht. Hinterher werde ich in Ruhe den sonnigen Herbsttag vertrödeln. Dass hinterher alles anders sein wird, weiß ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Wir gucken also zu dritt in meinen Bauch und die beiden Frauen schauen sich prüfend an. Sagen nichts, während ich im Dunklen liege. Du hast immer noch Schluckauf, als die Ärztin ein zweites Mal mit dem Cursor die kleinen Kreuze in deinem Nacken setzt. Noch einmal misst. 3.5 mm. Mir wird schwindelig. Vor der Nackenfaltenmessung habe ich mich informiert. Ich weiß, die Zahl ist auffällig. Alles bis 2.5 mm wäre im grünen Bereich. Alles was drüber ist, erhöht in Kombination mit meinem Alter die Wahrscheinlichkeit, dass mein Kind, dass du, eine Behinderung, einen Herzfehler, das Down Syndrom ach, wer weiß was noch alles haben wirst.

„Das sieht nicht gut aus“, bestätigt die Schöne meine Befürchtung. „Sie bekommen das gleich nochmal schriftlich.“ Auf dem Zettel rät man mir, nun bald eine Fruchtwasseruntersuchung machen zu lassen. Um sicher zu gehen. Plötzlich bin ich mitten drin im Strudel der vorgeburtlichen Untersuchungen. Und erst jetzt erahne ich die ganze Dimension dieser akribischen, sehr selbstverständlichen Suche nach Behinderung. Aus dem bunten Babykino ist schlagartig ein Thriller um Leben und Tod geworden. Schlagartig müssen wir Entscheidungen von unerträglicher Tragweite treffen.

Es folgen Tage, Wochen voller Angst und Ungewissheit. Wir lesen im Internet, versuchen uns zu informieren. Genetische Beratungsstelle, Hebamme mit Zusatzqualifikation, enge Freunde. Doch am Ende bleiben nur die Zahlen.

Bei der Nackenfaltenmessung, einem wichtigen Bestandteil im wachsenden Angebot der Pränatalmedizin wird in der 13. bis 15. Schwangerschaftswoche anhand einer Flüssigkeitsblase im Nacken eines Ungeborenen ein statistischer Wert ermittel. Zusammen mit einer Blutuntersuchung und dem Alter der Mutter ergibt sich aus der Dicke der Wasserblase eine Wahrscheinlichkeit. Ein statistischer Wert. Die Wahrscheinlichkeit, dass unser Kind das Down Syndrom haben wird beträgt 1: 48. Normal wären in meinen Alter hohe dreistellige Werte. Um Sicherheit zu bekommen werden im Normalfall weitere Untersuchungen angeboten. Doch sowohl Fruchtwasseruntersuchung als auch eine Entnehme von Gewebe aus der Plazenta sind für das Ungeborene nicht ohne Risiko. Was ist, wenn Gentests ergeben, dass das Kind gesund ist und wir es dennoch wegen des Eingriffs verlieren. Wie weiter, wenn klar wird, dass das Kind eine Behinderung haben wird.

Ist der Mensch schlauer als die Natur? Schlauer als Gott? Wie viel darf eine Schwangere über ihr ungeborenes Kind wissen? Noch nie hatten Menschen mit Down-Syndrom so große Entwicklungschancen wie heute, und noch nie war es für sie so schwer, überhaupt das Licht der Welt zu erblicken.

Schon bald wirst du deine Augen öffnen, Schlucken und Atmen üben, fühlen. Ab der 24. Schwangerschaftswoche könntest du mit viel Hilfe von Ärzten, auch außerhalb des Mutterleibes überleben. Eine Abtreibung aus medizinischen Gründen – und in diesem Fall wäre mein psychisches Wohl ein medizinischer Grund – ist bis zum Ende der Schwangerschaft möglich.

Was ist eine Mutter. Wozu ist sie da? Frage ich mich immer wieder. Und denke daran, wie dein kleiner Bauch beim Schluckauf hopst. Ich bin dazu da dieses Kind zu beschützen. Ich will nicht, dass jemand in meinen Bauch, deine sichere Höhle bohrt um nachzusehen, ob alles okay oder alles ganz schlimm ist. Ich will mich wieder auf dich freuen. Ohne diese bohrende Angst davor, was wird. Wir entscheiden uns gegen eine Fruchtwasseruntersuchung, obwohl mehrere Gynäkologen dazu raten. Ihr Tenor: Sie haben den ersten Schritt getan, nun folgen eben weitere Diagnostikschritte. Dass aber auch bei der Fruchtwasseruntersuchung Gefahren für das Ungeborene bestehen, zählt nicht. Der Eingriff wird wiederum mit Statistik gerechtfertigt.

Dieses Jonglieren mit Etwaigkeiten, Chancen, Risiken, Zahlen zieht mir den Stecker. Ich will was Handfestes. Und wenn es ein behindertes Kind ist. Grenzenlose Erleichterung, dass auch dein Papa dich so will, wie Du bist. „ Er wird lachen und weinen – um mehr geht es nicht“, sagt er und damit platzt der Knoten. Keine Untersuchung mehr. Nur noch Vertrauen drauf, dass alles gut werden wird. „Hab Vertrauen“ unser neues Mantra. Und noch fünf Monate Ungewissheit.

Es garantiert dir auch ja auch niemand, dass er kein Arschloch wird. Oder ein Neonazi. Oder mit 12 vom Bus überfahren und für immer ein Pflegefall. Ungefähr da bin ich gedanklich gegen Ende der Schwangerschaft. Wenn Kinder es erst mal auf die Welt geschafft haben, ist es keine Frage mehr, ob wir sie dann noch haben wollen oder sie lieber los wären.

Wir leben in einer Gesellschaft, in der Selbstbestimmung alles ist. Aber auch in einer Gesellschaft, die sich anders sein nicht mehr leisten will. Weil sie vorher aussortieren kann, tut sie es.

Im Mai 2013 wird unser Sohn geboren. Er ist vollkommen gesund.

Glück: Wie deine kleinen warmen trockenen Hände in meinem Gesicht tasten.